Best-Practice zur Unlogik der Digitalisierung

Best-Practice zur Unlogik der Digitalisierung

Wie NETZSCH die Materialwissenschaft mit einem digitalen Ökosystem revolutioniert.

Vor nahezu fünf Jahren schienen die Optimierungskriterien für DSC-Analysegeräte (Analysemethode: Dynamische Differenz-Kalorimetrie) klassisch auf den Kernmarkt, den Industrie-Materiallaboren und materialwissenschaftlichen Forschungsinstituten, fokussiert. Die Weiterentwicklung solcher Analysegeräte zielte im Wettbewerb allgegenwärtig auf die Unterstützung von erfahrenen Anwendern in diesem anspruchsvollen Umfeld, bei der „noch“ präzisieren Materialcharakterisierung, ab.

Abbildung 1: Innovationsbedarf bei der Materialcharakterisierung

Die technologischen Möglichkeiten waren bereits weitestgehend ausgereizt und der Wettbewerb entsprechend hart umkämpft. Diese Marktentwicklung stand für das Unternehmen NETZSCH Analysieren & Prüfen in starkem Kontrast zu der Zielsetzung weiteres Wachstum zu generieren. Um dieser Herausforderung zu begegnen musste sich NETZSCH, strategisch in Kooperation mit dem WOIS Institut, auf die Suche nach Innovationspotentialen begeben, um einerseits im bestehenden Markt wettbewerbsfähig zu bleiben und andererseits neue Marktsegmente (blaue Ozeane [1]) zu identifizieren. Bereits zu dieser Zeit konnten im Rahmen der strategischen Auseinandersetzung mit der Zukunft Signale erkannt werden, die darauf hindeuteten, dass neben dem bestehenden Markt ein signifikanter Bedarf, der noch nicht hinreichend adressiert wurde, existiert. Es zeigte sich ein deutlicher Trend hin zu einer steigenden Anzahl kunststoffverarbeitender Betriebe, jedoch hat nicht jeder dieser Betriebe Expertise in der Materialcharakterisierung, um damit seine Qualitätssicherung zu betreiben. Ohne Erkenntnisse aus der Materialanalyse lässt sich keine fundierte Wareneingangskontrolle durchführen und damit besteht das Risiko fehlerhaftes Material zu produzieren. Dies führt zu Herausforderungen in den Verarbeitungsprozessen oder sogar zu Reklamationen an hergestellten Kunststoffprodukten.

Abbildung 2: Strategisches Marktausweitungspotenzial in Qualitätssicherung

Mit dem Anspruch systematische Marktausweitung zu betreiben hat das interdisziplinär besetzte Team diesen spezifischen Bereich zum Kern seines Innovationsprozesses im Rahmen der Produktentwicklung definiert. Zur Orientierung und Ermittlung der Anforderungsprofile der „Kunststoffverarbeiter“-Zielgruppe wurden zunächst analog des Design Thinking Prozesses „Personas“ definiert, denen im Anschluss eine detailierte Nutzungsprozessanalyse gewidmet wurde. Die zukünftigen Anwender wären Mitarbeiter in der Warenannahme bzw. Qualitätssicherung von Kunststoffspritzguss-Betrieben. Den konkreten Handlungen dieser Mitarbeiter im Rahmen ihrer Rolle im Unternehmen folgend, konnten die Innovatoren konkrete Bedarfe beobachten und eine Schlüsselherausforderung abstrahieren.

Abbildung 3: Herausforderung im Umfeld der Materialcharakterisierung

Kunststoffverarbeiter sehen sich mit dem Widerspruch konfrontiert, dass sie bei Materialanalysen einerseits Ergebniszuverlässigkeit benötigen, um ihre Prozesse zu stabilisieren. Andererseits müssen die Analysegeräte für die Bedienung durch Qualitätssicherungsmitarbeiter geeignet sein. Der Anteil an manueller Materialcharakterisierung (Probenvorbereitung, Messparameter definieren, Analyse durchführen und Ergebnisse wissenschaftlich interpretieren) durch die Bedienung von komplexer Software sollte hierfür möglichst gering sein, was konträr zur aktuellen Entwicklungsrichtung solcher Analysegeräte im Kernmarkt war. Dagegen bedingte bisher die Zuverlässigkeit von Analyseergebnissen versierte Software-Nutzer, die in der Lage waren genau diese beschriebenen manuellen Handlungen im Rahmen der Materialcharakterisierung durchzuführen, wodurch sich entsprechende Anforderungen an den wissenschaftlichen Bildungsgrad ergeben. Damit ist ein scheinbar unüberwindbarer logischer Zusammenhang gegeben, der gleichzeitig eine Barriere für die Erschließung der neuen Zielgruppe durch das klassische Angebot an Analysegeräten darstellt. Ein Kompromiss zwischen der Eignung für die Qualitätssicherung und der erreichbaren Ergebniszuverlässigkeit wird dem Anspruch eines Marktführers nicht gerecht und stellt keine Innovation dar.

Abbildung 4: Strategischer Widerspruch

Aus der konstruktiven Auseinandersetzung mit dieser Barriere resultierte für das Team ein konkretes Entwicklungsziel. Die graphische Benutzeroberfläche der Analysesoftware sollte erheblich einfacher gestaltet werden, um dem Ausbildungsgrad der neuen Anwendergruppe gerecht zu werden. Darüber hinaus stellten die Innovatoren eine radikal-ideale Forderung aus der Perspektive des Kunden, mit dem Potential zur disruptiven Innovation, auf. Die Analyse sollte zukünftig vollständig automatisiert ablaufen können. Diese Zielsetzungen fordern das etablierte Expertenwissen der Hersteller von Analysegeräten heraus. In der Folge provozierte die Vision einen grundlegenden technischen Widerspruch, der gleichzeitig das Potenzial birgt Leistungsgrenzen zu verschieben.

Innovativer Wettbewerbsvorsprung erfordert die Überwindung von Kompromissen

Nun ist es Fakt, dass die Welt der Polymere vielfältig ist und unterschiedliche Proben zur Ermittlung ihrer Materialcharakteristika auch ein großes Spektrum von möglichen Parametern (wie Temperaturprofilen, Abkühlraten usw.) zur Festlegung von zweckmäßigen Analyseprofilen mit sich bringen. Es ist naheliegend das eine präzise Materialdeterminierung demnach für ein breites Spektrum an unterschiedlichen Proben lediglich einem erfahrenen Materialwissenschaftler und Analysegerät-Bediener gelingen kann. Würde man das Spektrum unterschiedlicher Analyseproben hypothetisch auf eine einzige Probenart reduzieren, so wäre wohl auch eine Automatisierung des Analysevorgangs denkbar, denn die Programm-Parameter könnten unverändert bleiben. Ein solches Anwendungsumfeld existiert jedoch nahezu nie. Darüber hinaus wäre mit dieser Einschränkung auch gleichzeitig eine automatische Determinierung eines noch unbekannten Materials ausgeschlossen.

Abbildung 5: Applikationsbedarf – Automatische Materialbestimmung

Damit war ein weiterer scheinbar unauflöslicher Widerspruch, eine technologische Grenze, identifiziert. Gleichzeitig war die dominierende Branchenlogik von DSC-Analysegeräten auf den Punkt beschrieben. Die Innovatoren wussten also, dass wenn sie in der Lage wären diese Barriere zu überwinden, sie das Potenzial hätten den bestehenden Markt zu revolutionieren und neue Marktsegmente zu erschließen.

Abbildung 6: Technologischer Widerspruch

Grundlegende Voraussetzung für diesen Durchbruch ist zunächst die Formulierung der paradoxen Forderung aus dem Widerspruch heraus. Die Formulierung dieser Forderung erfordert einen analytischen Diskurs auf der Ebene der Führungsgröße, der „Anzahl unterschiedlicher Proben“, vor dem Hintergrund der Gesetzmäßigkeiten der Höherentwicklung. Das Team stellte sich die Frage welche Entwicklungsrichtung dieser Führungsgröße zukünftig wohl fortschrittlicher sein wird. Wird die Anzahl verschiedener zu analysierender Materialproben stark steigend oder weiter abfallend sein? Die Antwort lautet: Der Trend geht hin zu steigender Individualisierung und damit auch zu immer spezifischeren Materialkonfigurationen. Nun wäre es wenig innovativ so einer Zukunft durch die Forderung nach noch mehr Materialwissenschaftlern mit noch mehr Erfahrung in der vollen Breite des Materialspektrums und der Bedienung solcher Analysegeräte zu begegnen. Eine paradoxe Forderung bereitet vielmehr durch systematisches Querdenken den Weg für eine innovative Abkürzung in die Zukunft. Die Frage lautet also: Wie lässt sich bei einer maximalen Anzahl unterschiedlicher Materialproben technologisch ein nahezu vollständig automatisierter Analyseprozess gestalten?
Mit dieser Fragestellung wurde der kreative Produktentwicklungsprozess strategisch neu ausgerichtet.

Digitale Ökosysteme können ganze Branchen dominieren

Die Auseinandersetzung mit den Megatrends Digitalisierung und Industrie 4.0 gaben entscheidende Impulse für die konkrete Lösung dieser Forderung. Die fundierte Analysekompetenz in einem umfassenden Materialspektrum ist in der Service-Abteilung von NETZSCH Analyseiren & Prüfen , welche mit den eigenen Geräten Kundenauftragsmessungen in eigenen Labors erstellt, bereits vorhanden. Die Abwicklung von unterschiedlichsten Analysen mit entsprechenden Methoden gehört für die dort beschäftigten Materialwissenschaftler zum Tagesgeschäft. Die Innovatoren stellten sich die Frage wie es möglich wäre, diese geballte Laborkompetenz in eine Referenz-Datenbank mit einem intelligenten Algorithmus zu überführen. Durch die Initiierung eines agilen Entwicklungsprozesses ist es gelungen die anfänglich wage Vision in eine reale Softwarefunktionalität „AutoEvaluation“ umzusetzen.

Abbildung 7: Software-Innovation durch Proteus®

Heute kann das Analysegerät NETZSCH DSC 204 F1 „Phoenix“ in Kombination mit der Software „Proteus®“ Glasübergangstemperaturen, Schmelztemperaturen/ -enthalpien von Polymeren oder reinen Metallen selbst detektieren und vollautomatisch auswerten. Die Innovatoren lösten durch die Einführung eines digitalen Ökosystems, den bestehenden branchendominierenden Widerspruch. Dieses Ökosystem kennzeichnet sich durch ein hohes Maß an Anwenderunabhängigkeit trotz der Möglichkeit eine große Probenvielfalt zu bewältigen, wodurch konsequent der Zugang in einen attraktiven Markt der Qualitätssicherung eröffnet wurde.
NETZSCH Analysieren & Prüfen folgte dem strategischen Anspruch auf Leadership im Zeitalter der Digitalisierung und schuf neben der Hardware auch ein softwareinduziertes Geschäftsmodell.

Abbildung 8: Das digitale Ökosystem von NETZSCH Analysieren & Prüfen

Darüber hinaus hat der Innovationsprozess weitere großartige Features wie den Concavus® Tiegel und 3in1 Sample Archive hervorgebracht, welche in Summe die Leistungsfähigkeit der neuen Generation von DSC-Geräten auf ein nie dagewesenes Niveau heben. Der volle Funktionalitätsumfang durchdringt aktuell auch den Kernmarkt der wissenschaftlichen Materiallabore und rundet damit eine disruptive Innovation für NETZSCH ab.

Weitere Produktinformationen erhalten Sie unter www.netzsch.com/proteus

Autoren: Thomas Denner, Gunther Herr, André Nijmeh

Quellen:
[1] Kim, W.C. & Mauborgne, R. (2005): Der BLAUE OZEAN als STRATEGIE – Wie man neue Märkte schafft wo es keine Konkurrenz gibt. Carl-Hanser Verlag. München.

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