Radikale Innovation erfordert kreatives Denken und analytisches Denken
Die Forderung nach innovativen Startups, abseits von den Zwängen etablierter Unternehmen scheint allgegenwärtig. Verbunden mit nicht weniger als der Hoffnung nach einer Branchenrevolution, werden sie als Befreier von gesetzten Marktgegebenheiten gehandelt und gefördert. Dabei wird den Startups fast charakteristisch zugeschrieben, dass sie kluge Köpfe um sich scharen die kreatives Denken verinnerlicht haben. Sie nehmen keine Rücksicht auf den Status Quo während sie in agilen Teams hocheffektiv daran arbeiten unsere Zukunft neu zu gestalten. Dies spiegelt deutlich wieder, dass „in der öffentlichen Diskussion Rationalität und Kreativität als Gegensätze wahrgenommen“ [1, S. 44] werden. Bahnbrechende Entwicklungen lassen sich jedoch nicht ausschließlich als das Ergebnis eines genialen Einfalls plausibilisieren. Wenn es um die Auseinandersetzung mit fundamentalen Herausforderungen wie der Überwindung einer Branchenlogik oder der Entwicklung eines technologischen Durchbruchs geht, bedingen sich kreative und analytische Denkoperationen vielmehr. Die Koexistenz beider stellt eine wesentliche Bedingung für radikale Innovation dar. [vgl. ebd.] Vor dem Hintergrund ständig steigender Veränderungsgeschwindigkeit von Technologien, und dem damit verbundenen Einfluss auf Kundenbedürfnisse sowie dem Wandel in den Wettbewerbsbedingungen, ist der Ruf nach radikalen Innovationen in der Gesellschaft und den Unternehmen heute lauter denn je geworden. Entsprechend sollte jeder von uns, der Dinge zum Positiven verändern möchte, für sich diese Fähigkeiten erschließen, ganz gleich in welcher Disziplin man nach Fortschritt strebt. Doch woher stammt überhaupt der Glaube an ein Ungleichgewicht in der Ausprägung von Kreativität und Analytik?
Die Kreativität für radikale Innovation steckt in jedem von uns
Als Kinder nahmen wir keine Rücksicht auf den ursprünglich gedachten Verwendungszweck von alltäglichen Gegenständen, wenn wir mit ihnen spielten. Nach belieben wurden Kisten mit Phantasie zu Schlössern, Äste zu Schwertern und Decken zu Umhängen umfunktioniert. Dieses kreative Potenzial schlummert im Grunde in jedem von uns. Nun konnten wir alle nicht ewig Kind bleiben und wurden durch unsere schulische Ausbildung auf den „Ernst des Lebens“ vorbereitet. Man vermittelte uns logisch nachvollziehbar Regeln für den zweckmäßigen Umgang mit Gegenständen und den zielführenden Einsatz von Methoden wie Mathematik und Sprache. Die Analytik hielt damit systematisch in unserem Denken Einzug und wenn man sich diesen kognitiven Wandel nicht bewusst machte, verdrängte analytisches Denken das kreatives Denken zu einem gewissen Maß. Nun plädieren Tom und David Kelley, die Pioniere des „Design Thinking“ Ansatzes das wir alle dazu in der Lage sind „creative confidence“ (übersetzt: „kreatives Selbstbewusstsein“) zu entwickeln. [2] Auch wenn wir nicht alle Künstler sein könnten, so könnten wir nach den beiden doch kreativere Anwälte, Ärzte und Manager sein. [vgl. ebd.]
Doch wo und in welchem Ausmaß sollte sich kreatives Denken in unserem beruflichen Alltag entfalten? In einem Widerspruchsmodell lässt sich die Beziehung zwischen Kreativität und Analytik tiefer durchdringen, um hierauf eine Antwort zu geben. (siehe Abb. 1)
Betrachtet man sich diesen Widerspruch am Beispiel eines wirtschaftlichen Umfelds so wird klar, dass sorgfältiges Handeln eine Befolgung von Prozessen erfordert und damit analytisch geprägt ist. Anders könnten Normen und Standards nicht erfüllt werden. Ohne Analytik wäre wirtschaftliches Wachstum und die Sicherung von Qualitätsansprüchen auf dem Niveau der Globalisierung nicht möglich gewesen. Der kreative Diskurs steht dem scheinbar gegenüber. Er lebt davon frei von Einschränkungen und etablierten Prozessen nach neuartigen Möglichkeiten zu suchen, um den Markt zu beeinflussen. Die Gefahr besteht jedoch darin den Bezug zu Marktgegebenheiten zu verlieren. In diesem Zusammenhang tragen Prozesse entscheidend zur Effizienz von Entwicklungen bei. Diese aufzugeben hätte negative Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit. Für radikale Innovation stellt sich nun die Frage wie kreatives Denken gefördert werden könnte obwohl Bestrebungen einem Prozess folgen. Einen Kernaspekt zu dieser Diskussion hat David Kelley als Gründer von IDEO und der Stanford D. School beigetragen. Mit seinem Design Thinking Ansatz nimmt er den Kunden mit all seinen Handlungen und charakteristischen Eigenschaften in den Prozessfokus. Durch das Erleben des Kunden in seiner natürlichen Umgebung und analytisch genaue Beobachtungen gewinnen Innovatoren empathische Einblicke (sog. empathic customer journey). Ziel ist es sich so direkt wie möglich in den Kunden hineinzuversetzen. Daraus lassen sich wiederum neue Erkenntnisse (sog. insights) über die Bedürfnisse des Kunden ableiten. Die kreative Auseinandersetzung mit diesen insights bildet letztendlich die Grundlage für konkrete Produkt- und Dienstleistungsentwicklungen. [vgl. 3, S. 96-130; vgl. 4, S. 48-75] Die analytische Anleitung bei der Ermittlung von Kundenbedürfnissen, sorgt für Gewissheit über konkrete Anforderungen der Kunden und bildet eine Voraussetzung für die Entstehung kreativer Zuversicht. Letztendlich gilt es aus der Sicht von Innovatoren dann „nur noch“ diese direkt zu lösen.
Kundenzentrierung leitet kreatives Denken und schafft radikale Innovation
Ist das Selbstbewusstsein hinsichtlich der eigenen Kreativität jedoch noch nicht hinreichend ausgeprägt, so kann die Konfrontation mit den neuartigen Kundenbedürfnissen eine nahezu unüberwindbare Herausforderung darstellen. Radikale Innovation entfaltet sich im Sinne von Design Thinking im Spannungsfeld zwischen Mensch, Wirtschaft und Technologie. (siehe Abb. 2)
Alle diese Dimensionen zu einer Synergie zu führen kann eine komplexe Herausforderung darstellen, die ausschließlich kreativ nur schwer zu lösen ist. Die zwingenden logischen Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Perspektiven liegen nicht offensichtlich auf der Hand. Die Bedürfnisse des Kunden, Effektivitäts- und Rentabilitätsmaßstäbe von Unternehmen und technologische Möglichkeiten müssen in Relation zueinander gesetzt werden. Das Aufgabenfeld ist entsprechend komplex und im Verlauf von Innovationsbestrebungen häufig nur schwer handhabbar. Es stellt sich folglich die Frage nach einer weiteren analytischen Unterstützung zur Konkretisierung der innovativen Aufgabenstellung aus diesem diffusen und vernetzten Unternehmenskontext. Die analytische Auseinandersetzung mit dem Spannungsfeld auf Basis der neuen insights kann den kreativen Diskurs jedoch einleiten.
Radikale Innovation entsteht durch die Synergie aus Kreativität und Analytik
Das Widerspruchsmodell unterstützt diesen Vorgang. Wie diese eine einfache Brücke zwischen analytisch und kreativ Denken bauen können lässt sich am Beispiel von allgegenwärtigen Online-Vergleichsportalen plakativ nachvollziehen. (siehe Abb. 3)
Führt man sich vor Augen wie Kunden von Versicherungsverträgen, Handyverträgen, Strom- und Gasverträgen, usw. in der Vergangenheit ihr gesamtes Vertragsportfolio verwaltet haben, so wird schnell klar das der Abschluss und Wechsel solcher Vertragsbeziehungen viel Zeit und persönliche Bindung in Gesprächen und Schriftverkehr erforderte. Ein Wechsel war folglich aufwändig und wohl überlegt bevor er durchgeführt wurde. Eine empathic customer journey könnte in diesem Umfeld aufgezeigt haben das der implizite Wunsch von Kunden darin besteht ihr Portfolio flexibler verwalten zu können, um Ausgaben zu optimieren. Hierfür wären viele Vertragswechsel bzw. Tarifanpassungen erforderlich. Dem gegenüber steht der Anspruch auf einen niedrigen Transaktionsaufwand seitens der Kunden und Anbieter. Um diesen zu senken sollten keine häufigen Anpassungen und Wechsel vorgenommen werden. Das Spannungsfeld zwischen Mensch, Ökonomie und Technologie ist damit analytisch erfasst (siehe Farb-Legende in Abb. 3). Durch die Formulierung einer paradoxen Forderung aus dem gegebenen Widerspruchsmodell heraus werden nun insights systematisch in Inspiration gewandelt. Auf diese Weise definiert sich eine „creative constraint“ (übersetzt: kreative Einschränkung), die von Tom und David Kelley als Triebfeder für die Entwicklung von innovativen Ansätzen mit Design Thinking angesehen wird. [2, S. 126f.] So entsteht ein fruchtbares Umfeld für zielgerichtete Ideen im Innovationsprozess. Die innovative Aufgabenstellung lautet im Beispiel folglich: Wie können möglichst viele Vertragswechsel und Tarifanpassungen trotz niedrigem Transaktionsaufwand realisiert werden? Diese Suchrichtung erzeugt eine Not zur Erfindung einer neuen Art und Weise des Vertragsabschlusses. Sie erlaubt keine Lösung auf Basis heutiger Maßstäbe und bereits in diesem Umfeld verwendeter Technologien. Hierdurch wird eine kreative Lösung jenseits bestehender Leistungsgrenzen provoziert. Die Antwort auf das konkrete Beispiel haben Online-Vergleichsportale wie Check24 und Verivox gegeben. Die Digitalisierung bietet wie hier angedeutet nicht nur einen erheblichen Mehrwert durch die radikale Senkung von Transaktionskosten. Die neuen Freiheitsgrade bergen Chancen für neuartige Produkte und Dienstleistungen in dieser, sowie in zahlreichen weiteren Branchen. Das Potenzial für radikale Innovation durch Digitalisierung ist noch lange nicht ausgeschöpft.
TAKE AWAY
- Kreatives Denken und analytisches Denken im Innovationsprozess schließen sich nicht gegenseitig aus. Gemeinsam bergen diese Denkweisen das Potenzial radikale Innovation gezielt auszuschöpfen.
- Kreativität braucht Freiraum und Not macht erfinderisch. Ein leistungsfähiger Innovationsprozess fördert und nutzt beides in dem er analytisch Kundenbedürfnisse ermittelt, antizipiert und kreativ neue insights ableitet. Bestehende Lösungen werden progressiv an ihre Grenzen geführt und analytisch-kreativ überwunden.
- Die Orientierung an Widersprüchen konzentriert Bestrebungen für radikale Innovation auf Herausforderungen im Spannungsfeld zwischen Mensch, Ökonomie und Technologie mit Disruptionspotenzial.
- Paradoxe Forderungen folgen analytisch-kreativen Denkoperationen. Sie stellen als „creative constraints“ den Ausgangspunkt für radikale Innovationen dar. Durch die Integration von neuen insights entfaltet sich ein offener Lösungsraum zur kreativen Ausschöpfung neuer Freiheitsgrade, wie sie beispielsweise die Digitalisierung bietet.
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Autor: André Nijmeh
Quellen:
[1] Neubeiser, M.-L. (1993): Die Logik des Genialen: Mit Intuition, Kreativität und Intelligenz Probleme lösen. Wiesbaden: Gabler.
[2] Kelley, D.; Kelley, T. (2015): Creative Confidence: Unleashing the creative Potential within us all. London: William Collins.
[3] Uebernickel, F.; Brenner, W.; Pukall, B.; Naef, T.; Schindlholzer, B.(2015): Design Thinking: Das Handbuch. Frankfurter am Main: Frankfurter Allgemeine Buch.
[4] Lewrick, M. (Hrsg.); Link, P. (Hrsg.); Leifer, L. (Hrsg.) (2017): Das Design Thinking Playbook: Mit traditionellen, aktuellen und zukünftigen Erfolgsfaktoren. München: Verlag Franz Vahlen.
[5] Hasso-Plattner-Institut für Software-Systemtechnik GmbH. School of Design Thinking (2018) www.hpi.de:
https://hpi.de/fileadmin/user_upload/hpi/dokumente/flyer/hpi_d-school_flyer_de.pdf (zuletzt abgerufen am 23.01.2018)